Aufgabe zu ‚Am kürzeren Ende der Sonnenallee’
Micha ist nun 40 Jahre und lässt an seinem Geburtstag seine Jugendzeit noch einmal Revue passieren. Verfasse einen Tagebucheintrag, in dem er seine Überlegungen, wie, wann und wodurch er erwachsen wurde, fixiert.
Liebes Tagebuch,
dies ist mein vermutlich letztes Mal, dass ich richtig Tagebuch schreibe. Aber zum Anlass meines 40. Geburtstages muss ich zum Schluss nochmal etwas Revue passieren lassen. Meine Jugend. Die wahrscheinlich wichtigste Zeit eines jeden Menschen, denn sie ist die Zeit zwischen Kind und Erwachsen sein. Die Zeit , die man nutzen muss, bevor man sich als Erwachsener in den Arbeitstag stürzt und so viele wichtige Dinge vergisst. Zum Beispiel Spaß zu haben. Obwohl ich dies nie verlernt hab, gibt es trotzdem Leute, denen ‘Spaß’ ein fremder Begriff ist. Ich kenne solche Leute. Mein Bruder war so einer, denn obwohl er früher massenhaft Witze gerissen hatte, hat er, nachdem er der Armee beigetreten ist, sein Lachen irgendwie verloren und es ist leider nie wieder zurückgekehrt. Es ist ein Trauerspiel, dass er sterben musste, bevor er wieder lernte zu lächeln. Und auch wenn er manchmal nervte, hätte ich mir lieber gewünscht, er hätte sich weiter über mich lustig gemacht, hätte mehr blöde Bemerkungen zu Onkel Heinz oder den Verehrern meiner Schwester gemacht oder sich in komischer Art und Weise über Mutters Essen beschwert. Es tut mir leid, dass ich nicht immer auf deiner Seite war oder dir oft aus dem Weg gegangen bin, Bernd, aber ich werde dich vermissen,bis zu meinem Tod an dich denken und für dich lächeln, denn anders als du habe ich mein Lächeln zum Glück nie verloren. Auch trotz schwerer Schicksalsschläge habe ich es geschafft, weiter glücklich zu sein. Jetzt gerade bin ich Lehrer und Vizedirektor eines Gymnasiums. Ich unterrichte Geschichte und Russisch. Ich weiß, kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie ich Schule früher gehasst habe (eigentlich bin ich ja nur für Miriam hingegangen) und mich strikt meiner Mutter widersetzte, aufs rote Kloster zu gehen. Aber ich glaube, sie wäre stolz auf mich, wenn sie mich jetzt so sehen könnte. Meine Schüler sind oft sehr anstrengend, aber trotzdem sehr liebenswert und nett. Sie freuen sich immer, wenn ich ihnen Geschichten aus meiner Jugend erzähle, und fragen oft, wie es war, in der DDR zu leben. Ich vermute zwar, sie mögen das nur so gerne, weil sie dann weniger Unterricht haben, aber mir soll das Recht sein. Immerhin hören sie mir zu und machen nicht irgendeinen anderen Quatsch. Zum Glück war meine Jugend so ereignisreich, sonst hätte ich keine Geschichten für sie. Ja, hätte ich früher nicht so unglaublich für Miriam geschwärmt, hätte ich mit meinen Freunden nicht so unglaublich viel Mist fabriziert und hätte ich nicht so eine einzigartige Familie, was könnte ich ihnen mit auf den Weg geben? Vermutlich nur eine Sache. Eine Sache, die ich meinen Schülern jede Stunde sage und die ich auch ohne so eine ‘krasse’ Jugend, wie meine Schüler sagen würden, lehren würde. ”Vergesst niemals Spaß zu haben und werdet nicht zu schnell erwachsen”. Ich weiß noch, wie ich mir früher gewünscht habe erwachsen zu werden. Für Miriam. Für ein Monster, welches mich im Nachhinein doch verlassen hat, obwohl ich so viele kostbare Minuten und Stunden meines Lebens für sie investiert habe. Und ich habe es letztendlich auch geschafft erwachsen zu werden. Mit 16 Jahren. Aber irgendwann habe ich eingesehen, dass es Schwachsinn ist. Niemand sollte sich für eine andere Person ändern müssen, denn wenn die Person einen nicht so mag, wie man ist, dann hat die Person deine Liebe nicht verdient. Und genau durch diese Erkenntnis bin ich dann endlich richtig erwachsen geworden. Beim Erwachsenwerden geht es nicht zwingend darum, unabhängiger zu werden, eine eigene Wohnung zu besitzen und seine Finanzen alleine zu regeln. Ich kenne viel Erwachsene, die dies nicht haben/sind. Aber sie haben etwas, was viele niemals haben können und genau das macht sie erwachsen. Und zwar die Einsicht sich zu lieben, wie man ist, stolz auf sich zu sein, ohne jemals etwas Besonderes vollbracht zu haben und lachen zu können, ega,l was man schon hinter sich gebracht hat. Hätte ich das früher gewusst, hätte ich nie so gehandelt, wie ich gehandelt habe, nur um ‘erwachsen’ zu werden. Ich hätte mich niemals bei dem Tanzkurs angemeldet und somit meine Zeit, die ich sonst lachend mit meinen Freunden auf dem Platz verbracht hätte, geopfert, nur um tanzen zu lernen und mir Sitzplätze auszurechnen. Zielorientiert hin oder her, währenddessen habe ich nicht einmal gelächelt und auch als ich dann später mit Miriam getanzt habe, habe ich mich zu sehr darauf konzentriert, perfekt zu sein um Miriam zu gefallen, dass ich meine Freunde vernachlässigt habe und mich auch garnicht richtig auf den Moment freuen konnte. Wie ich mich meiner Mutter widersetzt habe aufs rote Kloster zu gehen, war aber trotzdem legendär. Den Blick der Direktorin kenne ich noch heute. Er war einfach zum Wegschießen komisch, obwohl ich mir eingestehen muss, dass das dann doch ein bisschen kindisch war, aber naja. Immerhin habe ich jetzt wenigstens eine lustige Erinnerung an das rote Kloster. Das schlimmste, was ich in meiner Jugend jedoch gemacht habe, war als ich mich gegen die Schulklasse aus dem Westen ‘gewehrt’ habe, wobei man hier nicht wirklich von wehren sprechen kann, immerhin habe ich ihnen mit Mord gedroht. Für diese Aktion schäme ich mich noch heute, denn jemandem zu drohen ihn zu töten, hat rein gar nichts mit Erwachsensein zu tun, sondern eher mit Aggressionsproblemen. Was meiner Meinung nach jedoch wirklich erwachsen war, war als ich Miriam die Tagebücher geschrieben habe, um sie wieder glücklich zu machen. Ich weiß, das ähnelt sehr dem Tanzkurs, aber es ist in einer Hinsicht anders. Beim Tanzkurs habe ich meine Zeit geopfert, um Miriam zu gefallen, mich vor ihr in Szene zu setzen und um jemand zu sein, der ich eigentlich gar nicht bin. Beim Schreiben des Tagebuchs bin ich ich selbst geblieben, ich habe zwar etwas übertrieben und es etwas lustiger gestaltet, aber verstellt habe ich mich nicht wirklich. Wie auch immer, ich habe schon viel zu viel Zeit mit Tagebuchschreiben verbracht. Man soll ja aufhören, wenn es am Schönsten ist. In dem Sinne, auf Nimmerwiedersehen. Micha
(Alexandra Schmutzer, 10b)